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Das Klicken außerhalb der Zeit

Als die alte Kodak Brownie 2025 traf
Autor: Ke Shi
Rubrik: Zeitpräparate
Datum: 15. März 2025
Eine Geschichte über Fotografie, Erinnerung und die besondere Beziehung zwischen einem Großvater und seinem Enkel.
Fotografie Erinnerung Familie Zeit Analog

Drei Jahre nach dem Tod meines Großvaters fand ich endlich den Mut, die unterste Schublade seines Schreibtischs aus Nussbaumholz zu öffnen.

Staub tanzte im Nachmittagslicht wie aufgeschreckte Zeitsplitter. In der Schublade lagen keine Schätze, nur eine alte Kodak Brownie-Kamera, ihr schwarzes Leder schon fleckig, das Sucherglas vom Nebel der Jahre getrübt. Darunter drei Fotoalben und ein Stoß unentwickelter Filme – in Butterbrotpapier gewickelt, mit Großvaters ordentlicher Handschrift beschriftet: »Für Xiao Ke, wenn er bereit ist.«

[Bild: Alte Kodak Brownie Kamera auf einem Holztisch]

Ich heiße Ke Shi, der Name stammt von Großvater. »Shi ist ein guter Buchstabe«, sagte er immer. »Shi wie Zeit, Shi wie rechter Moment.« »Eine Kamera hält nicht nur Bilder fest«, erklärte er mir oft, während er die Linse putzte. »Sie ist ein Schneidegerät für Zeit. Ein Klicken, und dieser Moment ist für immer in Chemikalien und Papier eingeschlossen.«

Ich bin ein Kind des digitalen Zeitalters. Handys filmen in 4K, KI restauriert alte Fotos, Cloud-Speicher versprechen ewige Erinnerung. Großvater aber benutzte zeitlebens nur Film. Digitale Pixel seien zu kalt, sagte er, hätten nicht die Wärme des Silberhalogenids.

Die unentwickelten Filme, zwölf an der Zahl, trugen Aufkleber mit den Jahren: 1997–2005. Die Jahre um meine Geburt. In winziger Schrift hatte Großvater am Rand notiert: »Xiao Kes Kindheit, und die Welt, die er nie gesehen hat.«

»Eine Kamera hält nicht Zeit fest, sie sammelt Möglichkeiten. Was ich festhielt, war nicht deine Kindheit, sondern die Kindheit, die du haben könntest.«

Ich fand die letzte alte Fotowerkstatt der Stadt, die noch Filme entwickeln konnte. Der Besitzer, ein weißhaariger Meister mit einer Lupenbrille, strahlte, als er die Filme sah. »Kodak Gold 200, längst nicht mehr produziert«, sagte er und strich zärtlich über die Hülsen, als begrüße er einen alten Freund. »Dein Großvater hat sie gut aufbewahrt. Das Trockenmittel ist noch wirksam.«

In der Woche des Wartens träumte ich jede Nacht von Großvater. Immer stand er mir im Rotlicht der Dunkelkammer den Rücken zu, schwenkte die Entwicklerschale, Wasser rauschte, Bilder tauchten langsam in der Flüssigkeit auf – doch immer, kurz bevor ich sie erkennen konnte, wachte ich auf.

[Bild: Eine traditionelle Dunkelkammer mit Entwicklerbädern]

Der Tag der Abholung war grau. Der Meister überreichte mir einen dicken Umschlag aus Kraftpapier, sein Blick seltsam belegt. »Ihr Großvater … war ein besonderer Mensch.« Er zögerte. »Schauen Sie sich diese Bilder in Ruhe an.«

Mit dem Umschlag ging ich zur alten Stadtmauer, wo Großvater mich oft zum Sonnenuntergang mitnahm. Auf unserer Steinbank sitzend, holte ich tief Luft und öffnete ihn.

Schon das erste Bild ließ mich erstarren.

Da war ich, vielleicht drei, in einer gelben Regenjacke, wie ich in eine Pfütze trat – doch der Hintergrund war nicht der Hof unseres alten Hauses, sondern der Bambuswaldpfad im Arashiyama in Kyoto, den ich erst letztes Jahr zum ersten Mal besucht hatte. Der Bambus saftig grün, ich grinste bis über beide Ohren, der Regen ließ ein sanftes Licht auf dem Film zurück.

Zweites Bild: Mein fünfter Geburtstag, ich blies Kerzen aus – aber der Kuchen zeigte die Zahl »5«, und im Hintergrund lag unser neues Wohnzimmer, in das wir erst vor zwei Jahren gezogen waren. Die skandinavische Hängelampe hatte ich selbst ausgesucht.

Drittes Bild: Ich, etwa dreizehn oder vierzehn, hing an Großvaters Arm – im Rapsfeld am Qinghai-See. Doch Großvater war mit zehn bei mir an Alzheimer erkrankt, weitere Reisen unternahmen wir nie mehr.

Meine Hände begannen zu zittern.

Bild um Bild zeigte denselben »Fehler«: Szenen, die noch nicht stattgefunden hatten; ich in Kleidern, die ich noch nicht besaß, an Orten, die ich noch nicht kannte, bei Taten, die ich noch nicht vollbracht hatte.

[Bild: Verschwommene Fotografien auf einem Tisch ausgebreitet]

Das letzte Bild des zwölften Films war leer. Nein, nicht ganz. Am Rand des Fotopapiers stand, mit einer speziellen Chemikalie in der Dunkelkammer geschrieben, nur unter einem bestimmten Winkel lesbar, Großvaters Schrift...

»Wahre Zeit liegt nicht im Moment des Auslösers, sondern in unserem Herzen, das immer daran glaubt, dass es ›ein nächstes Mal‹ geben wird.«

Tränen verschleierten meine Sicht. Ich blickte auf. Außerhalb der Mauer glitzerte der Wassergraben, als stünde Großvater gerade am anderen Ufer und winkte mir zu, wie damals vor jedem Foto, wenn er sagte: »Xiao Ke, hierher schauen, lächeln –«

Ich griff zur alten Kodak Brownie. Im Sucher wurde die Welt zu einem warmen, leicht gekrümmten Rechteck gerahmt. Ich drehte den Fokusring, richtete ihn auf ein kleines Stück Sonnenlicht auf der Steinbank, auf dem ein frischgrünes Platanenblatt lag.

Klick.

Das mechanische Auslösergeräusch war voll und verlässlich, wie ein sanfter Seufzer.

In diesem Moment begriff ich endlich: Großvater hatte mir keine Aufzeichnung der Vergangenheit gegeben, sondern Saat für die Zukunft. In diesen »falschen Fotos«, in jedem noch nicht geschehenen, aber zutiefst geliebten Augenblick, hatte er die Zeit besiegt. Und das Vergessen.

Jetzt war ich an der Reihe, für die, die mich lieben – und für mein künftiges Ich – weitere »Möglichkeiten« zu sammeln.

Wie Großvater sagte: Außerhalb der Zeit ist Liebe das einzig wahre Entwicklerbad.

KS

Über den Autor

Ke Shi, Masterstudent der visuellen Anthropologie, Sammler alter Kameras, glaubt, dass Film eine Wärme birgt, die sich nicht in Pixeln berechnen lässt.